trau dich (du selbst zu sein, verrücktes zu leben, neues auszuprobieren)
In den nächsten Tagen werde ich 55 Jahre alt. Ich oder nur mein Körper?
Viele Jahre habe ich mich mit der Akzeptanz des Älterwerdens versucht, war in meiner Adipositas (Esssucht) gefangen und schloss nach und nach mit vielen Dingen ab, die ich nicht mehr leben konnte.
Das Wandern ging verloren, Camping war nicht mehr möglich, mein letzter Besuch in die Höhe auf das Zugspitzplatt wurde zu einem Albtraum. Ich war mit dem Zug hochgefahren, stieg oben aus und bekam keine Luft mehr. Mir wurde schwindelig, ich hatte Panik und die Station war menschenleer. Irgendwann hatte ich mich beruhigt, bekam wieder Luft und konnte mich nach draußen begeben. Langsam ging ich über die Anhöhe. Ich wollte unbedingt zu der kleinen Kapelle dort oben. Bis auf 10 m kam ich an sie heran. Trotz mehrmaliger Versuche schaffte ich nicht die letzten Schritte bis dorthin. Ich fuhr betrübt ins Tal hinunter. Wieder ein Haken hinter etwas, das ich leidenschaftlich liebte, meine Berge.
Und so mehrten sich Jahr für Jahr die Haken hinter die Dinge, die ich verloren gegangen glaubte. War es die Psychotherapie oder die Schlauchmagen-OP, sicher waren es mehrere Faktoren, die dazu führten, dass ich mein Leben und mich selbst veränderte. Ich hatte und habe das große Glück, dass es in meinem Leben immer Menschen gab, die mir zur Seite standen, und die an mich glaubten, selbst in den Momenten, wo ich mich selbst aufgeben wollte.
Es war nicht eine bewusste einzige Entscheidung, es war die Vielzahl der kleinen Schritte, und es war die Beharrlichkeit, mit der ich mich täglich wieder entschieden habe, leben zu wollen.
Irgendwann begann ich, mich wieder zu trauen. In meiner Therapie, in meiner Entscheidung zur Schlauchmagen-OP, in meinem Kampf um ein sinnvolles und zufriedenes Leben. Ich löste mich mehr und mehr von der Couch, die mein Leben bestimmt hatte.
Und auch das wieder in sehr vielen kleinen Schritten, immer auf den nächsten Schritt konzentriert, diesen gegangen. Klappte es, ging es weiter. War ich zu schnell, ging es auch mal ein paar Schritte zurück.
Plötzlich gelang es, dass ich wieder mit meinen Hunden spazieren gehen konnte. Ich schaffte ohne Begleitung den Fußweg zum Hausarzt, ich verlegte einen Fußboden, ich räumte äußerlich meine Wohnung und innerlich mich selbst auf. Dinge, die erstmal in der Gesamtheit nicht gingen, teilte ich in einzelne Schritte auf. Ich konnte wieder öffentliche Verkehrsmittel benutzen, was meine Bewegungsfreiheit deutlich erhöhte.
Und selbstverständlich gab es auch Misserfolge. Und selbstverständlich gab es auch Tage, an denen ich mich wieder in mir selbst und in mein Bett verkroch. Und selbstverständlich gab es auch Momente des inneren Verzweifelns und des Tals der Tränen.
Trotzdem sagte ich mir an jedem neuen Morgen, dass ich leben möchte. Ich bastelte meine Motivationswand. Dort hängte ich Kärtchen auf, mit dem, was ich beachten wollte und später mit Bildern von dem, was ich mir erträumte. Auf dem ersten Kärtchen stand nur mein Zauberwort: "Jetzt!" Wenn der innere Schweinehund mich zum Sitzenbleiben verdammen wollte, sah ich auf das Kärtchen und stand auf.
Ich hatte nach und nach sämtliche Psychopharmaka, die ich seit 20 Jahren nahm, ausgeschlichen und abgesetzt. Das waren sehr anstrengende und schwierige Wochen. Wo ich allein nicht weiterkam, hatte ich für unterstützende und begleitende Hilfe gesorgt.
Es kamen neue Interessen in mein Leben und mit ihnen neue Menschen. Ich wurde wieder hungrig, aber nicht mehr nach dem Essen, mit dem ich meine Gefühle betäubt hatte und das mir Zufriedenheit vorgaukelte. Es war der Hunger nach Leben, nach Veränderung, nach Bewegung zurückgekehrt.
Ich begann, mich zu trauen. Es kam die Reise durch mein Leben, durch meine Vergangenheit, zu mir selbst und zu dem, was ich noch vom Leben möchte.
Menschen erkannten mich äußerlich nicht mehr durch die hohe Gewichtsabnahme, aber wenn sie mit mir sprachen, stand da auch ein anderer Mensch vor ihnen.
Die Transformation, die ich gerade beschreibe, passierte tatsächlich in nur 12 Monaten. Aber sie war nur das sichtbare Ergebnis von vielen kleinen Schritten in den Jahren zuvor.
Ich arbeite nun auf dem ersten Arbeitsmarkt. Mein nächstes Projekt ist die Wiedererlangung der Fahrerlaubnis. Bei diesen Projekten bin ich regelmäßig der Dinosaurier unter den wesentlich jüngeren Mitstreitern, aber mit sehr viel Wissen und Erfahrung - na und.
Was ich dir mit dieser kleinen Geschichte mitgeben möchte, sind folgende Dinge, die mir geholfen haben:
- es gibt keine Lösung, die auf jeden Menschen zutrifft, jeder Mensch muss seinen eigenen Weg suchen und finden
- Misserfolge gehören dazu, wenn es kein Erfolg ist, dann wenigstens eine Erfahrung
- wenn ich etwas nicht allein schaffe, bitte ich um Hilfe
- du bist nicht zu alt, dein Leben zu ändern
- sei du selbst und nicht das, was andere von dir erwarten
- bleib beharrlich und diszipliniert, neue Gewohnheiten müssen sich erst setzen
- aber verurteile dich nicht, wenn es Tage gibt, wo nichts geht. wir dürfen auch schwach sein
- probiere neue Dinge aus, die dich erstmal ansprechen. Manches passt, anderes kannst du getrost wieder zur Seite legen
- teste deine Grenzen aus
- fange an, dir wieder etwas zuzutrauen
- gib nicht auf, es braucht Geduld und Zeit, der Weg ist das Ziel
- Und zum Schluss das Wichtigste: Entscheide dich immer wieder bewusst und an jedem Tag neu für dein eigenes Zauberwort
Kommentare
Kommentar veröffentlichen